Knechtsteden 2023: „Wir brechen mit Vorurteilen über Alte Musik“

Acht Konzerte mit historischer Aufführungspraxis, zwei Barockoper-Aufführungen im Neusser Globe, dazu zwei musikalische Movimento-Radtouren – das Programm des Festivals Alte Musik Knechtsteden, das vom 16. bis 23. September 2023 stattfindet, ist wieder prall gefüllt. Festivalgeschäftsführer Michael Rathmann erläutert im Interview mit S-Quin-Redakteur Gunnar Erth, was die Gäste erwartet. Übrigens: S-Quin-Kunden können Tickets gewinnen – mehr dazu am Ende des Interviews.

S-Quin: Vor zwei Jahren Movimento, letztes Jahr Auftritt im Globe – mit was überraschen Sie uns 2023?
Michael Rathmann: Wir bringen dieses Jahr zwar kein neues Format an den Start, verfeinern und erweitern aber die Innovationen der letzten Jahre dank der gewonnen Erfahrungen. So kommt in diesem Jahr eine zweite Barockoper-Aufführung mit historisch informierter Inszenierung im Neusser Globe hinzu. Bei unserer Kultur-Fahrradtour Movimento wird eine der beiden Strecken eine Rundtour sein – damit reagieren wir auf die Wünsche vieler Radfahrer.

Es gibt dennoch eine große Besonderheit dieses Jahr: Festival-Gründer und -Leiter Hermann Max verabschiedet sich. Wie begeht er seinen Abschied?
In diesem Jahr haben wir ein Musikprogramm, in dem die Familie Bach und ihr Umfeld im Mittelpunkt stehen. Vor genau 300 Jahren wurde Johann Sebastian Bach ja zum Thomaskantor berufen und betrat die musikalische Weltbühne. Hermann Max kann deshalb bei unserem diesjährigen Programm noch einmal so richtig aus dem Vollen schöpfen, denn er hat sich ja sein ganzes Leben lang um die Erforschung der mitteldeutschen Barockmusik verdient gemacht. Johann Sebastian Bach war einer seiner Forschungsschwerpunkte. In unserem Programm geht es aber nicht nur um Bach und seine Familie, sondern unter anderem auch um andere Thomaskantoren. Das Umfeld des großen Komponisten steht ja leider oft in seinem Schatten.

Hermann Max_Foto: Martin Roos

Welches Mitglied der Familie Bach ist einen besonderen Blick wert?
Ich kann da gar keinen herausnehmen. Ich finde die ganze Familie sehr spannend. Ich finde aber besonders interessant, wie zur Zeit der Barock der Beruf des Komponisten wahrgenommen wurde – nicht als Künstler, der über allem schwebt, sondern als Handwerker. Gerade an der Familie Bach sieht man sehr gut, wie von Generation zu Generation mit musikalischen Traditionen gebrochen wurde. Man darf auch nicht vergessen, dass Johann Sebastian Bach zu seiner Zeit noch gar nicht diese große Berühmtheit hatte. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach war im 18. Jahrhundert berühmter. Erst in der Rückschau steht Johann Sebastian Bach über allem. Es ist sehr spannend zu sehen, was die Geschichtserzählung aus der Bach-Dynastie macht.

Die spätere Kanonisierung gibt es ja auch bei anderen Komponisten – wie etwa Vivaldi, den man ja fast schon vergessen hatte.
Ja, genau. Ich würde da ergänzen, dass die historisch informierte Aufführungspraxis und überhaupt die Beschäftigung mit Alter Musik ja ein Phänomen ist, das erst im 19. Jahrhundert begann. Vor allem mit Felix Mendelssohn Bartholdy, da aber in einem romantischen Kontext. So richtig an Fahrt gewann sie erst mit Nikolaus Harnoncourt im 20. Jahrhundert. Ich würde aber auch Hermann Max in diese Reihe stellen, der anhand historischer Quellen nicht nur Notentexte erforscht hat, sondern auch die Aufführungspraxis. Was gab es zum Beispiel für Musiker, was für Instrumente, wie war der musiktheoretische Hintergrund der Musiker, wie war der Originalklang? Hermann Max hat sich um diese Fragen sehr verdient gemacht. Und das vermitteln wir auch unseren Festivalgästen.

Das Ensemble 1700 ist ein fester Bestandteil des Festivals. Foto: Johannes Ritter

Dieses Jahr sind Sie ja auch wieder im Globe. Da geht es aber ausnahmsweise nicht um Bach, oder?
Ja, das liegt aber daran, dass die Barockoper im Mittelpunkt der „Globe Baroque“-Aufführungen steht. Bach ist da leider ziemlich außen vor, denn er hat zwar Kantaten komponiert, die zwar opernhaften Charakter haben, aber eben keine echten Barockopern. Aber es gab sehr viele andere Komponisten, die sich damit hervorgetan haben, zum Beispiel im Raum Dresden.

„Wir führen die Barockopern absolut originalgetreu auf“

Was präsentieren Sie diesmal im Globe?
Dorothee Oberlinger hat das Werk „I lamenti d’Orfeo“ von Giovanni Alberti Ristori herausgepickt. Diese Kurzoper mit Kammerbesetzung erzählt einen Teil der Geschichte von Orpheus und Eurydike und passt sowohl vom Thema her gut in das Globe, als auch von der Länge. Als wir das Konzept Barockoper 2022 gemeinsam mit dem Kulturamt Neuss aus der Taufe gehoben haben, wollten wir kein so langes Stück – und das hat sich bewährt.

Was ist das Besondere an diesen Barockopern?
Diese auch Serenaten genannten Miniaturopern gehen inhaltlich zwar nicht so sehr in die Tiefe wie große Opern, sind aber musikalisch absolut gleichwertig. Wir führen unsere Werke absolut originalgetreu auf, inklusive der Schauspielpraxis des 18. Jahrhunderts mit ihrer stilisierten Gestik und Mimik. Lediglich in Sachen Bühnenbild orientieren wir uns an der Gegenwart und arbeiten mit Videoprojektionen. Das Stück dauert etwa 50 Minuten und wird noch von einem Instrumentalwerk mit Dorothee Oberlinger als Solistin an der Blockflöte ergänzt.

Die Basilika Knechtsteden gab dem Festival seinen Namen. Foto: Privat

Woher haben Sie denn die Sänger und Schauspieler, die das Schauspiel der damaligen Zeit beherrschen?
Dorothee Oberlinger ist in dem Bereich schon seit einigen Jahren sehr aktiv und Kontakte zu einem Pool von Solistinnen und Solisten, die für solche Ideen sehr offen und empfänglich sind. Auch Regisseur Nils Niemann ist mit dem Thema sehr versiert. Unsere Solistinnen und Solisten haben uns schon berichtet, dass wenn man das Grundprinzip der damaligen Schauspielpraxis verstanden hat, das ganze nicht mehr schwer ist, weil es einfach sehr gut zur Musik passt.

Wie war es im letzten Jahr?
Unser Konzept ist sehr gut aufgegangen. Das Publikum war auch sehr vom „Periodical Acting“, der Schauspielpraxis der damaligen Zeit, sehr angetan. Im Globe sitzt man ja sehr nah an der Bühne und bekommt jedes Detail mit. Zudem hat der Raum auch akustisch stark zum Erfolg beigetragen. Neben den zwei Hauptakteuren waren 16 Musikerinnen und Musiker auf der Bühne, die in Schwarz gekleidet waren und somit sehr in den Hintergrund traten. Durch die Intensität und Nähe zur Bühne war dies eine sehr kurzweilige und für alle spannende Erfahrung. Ich war vor allem überrascht, wie offen und neugierig das Publikum auf das neue „Globe Baroque“-Konzept zuging. Wir waren relativ schnell ausverkauft. Der Rahmen, den viele zu einem Picknick nutzten, trug ebenfalls dazu bei, dass das Publikum einen sehr schönen Sommerabend hatte. Daran wollen wir anknüpfen. Bei allen Beteiligten ist der Wunsch da, „Globe Baroque“ in den nächsten Jahren zu verstetigen und auszuweiten.

War Movimento im vergangenen Jahr auch ausverkauft?
Bei Movimento ist dies anders, denn aufgrund des Radtour-Konzepts kann man eigentlich immer noch Platz für weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer finden. Es gab aber ebenfalls wieder sehr großes Interesse und wir lagen weit über der erwarteten Teilnehmerzahl. Bei der einen Tour waren 300 Leute dabei, bei der anderen 250.

Das sind wirklich gute Zahlen.
Das Konzept aus Radtour und Konzerten hat sich mittlerweile in der Radfahrszene herumgesprochen und es sind daher erfreulicherweise viele Leute dabei, die bisher keinen Kontakt zu Alter Musik hatten. Wir müssen aber immer aufpassen, wo ein Nadelöhr entstehen könnte, denn unser Konzept sieht ja vor, dass wir ganz unterschiedliche Spielstätten für unsere Zwischenstopps nutzen, vom großen Saal bis zur kleinen intimen Bühne. Das ist die einzige echte Begrenzung für Movimento, stellte aber 2022 kein Problem dar.

„Bei Movimento zeigen wir kulturelle und geschichtliche Vielfalt vom Schloss bis zum Industriemuseum“

Sie haben gesagt, dass es bei Movimento leichte Änderungen geben wird. Können Sie das ausführen?
Ja, wir ändern die Strecken: Die Tour Movimento I am 10. September ist eine Rundfahrt und führt am Rhein entlang von Pulheim über Rommerskirchen und Dormagen zurück nach Pulheim. Die zweite Tour, Movimento II, ist am 24. September und führt entlang der Erft wieder durch den Rhein-Kreis, aber auch da auf neuen Wegen und mit neuen Stationen, etwa dem Sandbauernhof in Korschenbroich.

Wie steht es um die musikalischen Zwischenstopps?
Bei beiden Rundkursen haben wir acht Stationen. Das musikalische Konzept ist vergleichbar mit dem im letzten Jahr: unterschiedliche Musikdarbietungen an unterschiedlichen Orten, jeweils in Absprache mit den lokalen Partnern.

Movimento ist musikalisch wieder stärker gemischt als das Festival?
Ja, genau. Bei Movimento I haben wir zum Beispiel eine Carillonistin dabei, die mit einem großen Truck und einem Glockenspiel auf der Ladefläche vorbeikommt. Wir haben den Klavierkabarettisten William Wahl dabei, der jüngst den Comedypreis „Freiburger Leiter“ gewonnen hat. Aber natürlich haben wir auch Alte Musik dabei: Das Ensemble Ala Aurea spielt und singt zum Beispiel Lieder von Hildegard von Bingen. Und das Ensemble Anima Shirvani stellt deutsche Renaissance-Kompositionen persischer Musik aus der Epoche gegenüber. Es gibt auch neue musikalische Nuancen, zum Beispiel ein gemeinsames Konzert des A-Capella-Ensembles Sjaella mit der Big Band Spielvereinigung Süd. Und das sind nur einige Beispiele von Movimento I! Unser Konzept ist dabei stets, Leuten, die sich vielleicht vorrangig für William Wahl interessieren, auch einen Appetiser Alter und anderer Musik zu bieten. Und es ist immer wieder interessant, die Reaktionen darauf zu sehen.

Wie sind die?
Gut! Viele sagen, dass vor allem sie Alte Musik sie positiv überrascht hat. Wir können so mit einigen Vorurteilen brechen. Auch die Locations kommen gut an – etwa die St. Briktius in Oekoven, wo das Hildegard-von-Bingen-Programm stattfinden werden. Diese romanische Kirche ist ein echtes Kleinod, das man meist nicht auf dem Schirm hat. Wir zeigen die kulturelle und geschichtliche Vielfalt – von Schloss bis Industriemuseum.

Stichwort neue Orte: Beim Festival Alte Musik Knechtsteden gibt es mit Schloss Arff ja auch einen neuen Spielort.
Ja, genau. Wir sind immer auf der Suche nach neuen interessanten Spielstätten. Schloss Arff ist zwar bekannt, aber noch nicht so sehr als Ort von Konzerten. Wir sind froh und dankbar, dass Inhaber und Pächter uns sofort mit offenen Armen empfangen haben. Schloss Arff bietet eine sehr intime Atmosphäre, es ist ideal für unser Konzert mit der Opus-Klassik-Preisträgerin Viviane Chassot, die Bach, Haydn und Mozart auf dem Akkordeon spielen wird. Das Konzert ist aber bereits ausverkauft – das ging ganz schnell.

Aber die Basilika Knechtsteden bleibt der Hauptspielort des Festivals?
Unbedingt. Die Basilika ist prädestiniert für die größeren Orchester- und Chorformationen, aber auch die Gregorianische Nacht am 22. September, bei der die Sparkasse Neuss Partner ist. Dort dreht sich alles rund um Heldensagen und Heiligengeschichten in der gotischen Klangarchitektur der Notre-Dame-Schule aus dem 12. Und 13. Jahrhundert, aber auch in zeitgenössischen Vertonungen. Gesungen wird dies von einem Vokaltrio, dem Ensemble Céladon. Ältere Werke ins hier und heute zu transferieren ist ja ebenfalls ein Anliegen unseres Festivals. Ein Stück, auf das ich an dem Abend sehr gespannt bin, ist eine Litanei, in der Städte besungen werden, die im heiligen Namen von der Landkarte getilgt wurden. Dort wird das aufgebrochen, was man an Vorstellungen auch zum Thema Heilige und Helden hat.

Das Ensemble Celadon. Foto: Antonin Sumner

Sie haben ja auch eine größere Vielfalt der Veranstaltungsarten – etwa eine gesellige Landpartie am Sonntagnachmittag oder zwei Kammermusikabende mit Weinbegleitung im Kreismuseum Zons. Sie schauen sich also immer weiter nach neuen Ideen um?
So ist es, genau. Wir versuchen immer, nicht zu sehr in klassischen Formaten zu denken. Bei der Landpartie wird zum Beispiel eine Kaffeekantate aufgeführt – da liegt es natürlich nahe, das entsprechende Ambiente zu schaffen. Aber bei einem Gesprächskonzert, wo immer Redebeiträge den musikalischen Fluss unterbrechen, ist es zum Beispiel sehr wichtig, eine vernünftige Konzertpause zu haben, in der das Publikum interagieren kann.

Dorothee Oberlinger übernimmt 2024 mehr Verantwortung. Foto: Festival Alte Musik Knechtsteden

Das ging in den letzten Jahren ja leider nicht.
Ja, in den Coronajahren konnten wir leider nicht so viele Dialogmöglichkeiten schaffen. Das wollen wir jetzt nachholen. Wir bieten zum Beispiel auch wieder Einführungsgespräche zu drei Konzerten an. Dort kann man mit den Musikern, die eine Stunde später  auf der Bühne stehen, in Dialog treten und Hintergrundwissen charmant vermittelt bekommen. Nah am Menschen, so wie es sein soll.

Letzte Frage: Was bedeutet der Abschied von Hermann Max für die Zukunft des Festivals?
Sein Abschied ist für uns natürlich eine Herausforderung, weil dieses Festival durch Hermann Max entstanden und mit ihm gewachsen ist. Wir werden versuchen, ein neues Konzept zu entwickeln und sind bereits in Gesprächen. Die Spielzeit 2024 wird eine Interimssaison werden; wir freuen uns sehr, dass Dorothee Oberlinger uns dabei als Artist in Residence unterstützt. Wie es danach weitergeht, werden wir bis dahin geklärt haben.

Mit S-Quin Tickets gewinnen

S-Quin verlost jeweils 2 × 2 Freikarten für das für das Motettenprogramm am 20. September und die Gregorianische Nacht am 22. September. Das Gewinnspiel und die Teilnahmebedingungen finden Sie auf www.s-quin.de. Teilnahmeschluss: 07.08.2023.

Titelfoto: Michael Rathmann

Mehr zum Festival finden Sie in diesem S-Quin-Artikel:

Festival Alte Musik Knechtsteden 2023: Ein Kennenlernen mit Familie Bach

 

 

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