Nach der Pandemie finden 2023 wieder mehr Hauptversammlungen in Präsenz statt. Warum Anleger bei den Aktionärstreffen einmal vorbeischauen sollten.
Text: Thomas Luther
In diesem Frühjahr ist Ingo Speich erstmals seit Langem wieder öfter geschäftlich unterwegs. Der Experte der Deka reist durch die Lande und wird die Hauptversammlungen (HV) der Unternehmen besuchen, deren Aktien die Sparkassenfondsgesellschaft in ihren Portfolios hat und die ihre jährliche HV wieder in Präsenz veranstalten.
Dazu kommen einige Hauptversammlungen, die er virtuell verfolgen wird. So hat sich Speich den letzten Freitag im April im Kalender markiert. An diesem Tag lädt der Chemiekonzern Bayer seine Aktionäre ein – und Speich hat Redebedarf. Der teure Zukauf des US-Agrarspezialisten Monsanto 2016 hat sich als bei Weitem nicht so lukrativ erwiesen, wie die Unternehmensführung anfangs glaubte.
An der Börse hat das ehemals wertvollste deutsche Unternehmen deutlich an Wert verloren, während der deutsche Auswahlindex DAX mehr als 50 Prozent hinzugewonnen hat. „Das ist aus Sicht der Aktionärinnen und Aktionäre nicht akzeptabel“, moniert Speich, der bei der Deka den Bereich Nachhaltigkeit und Corporate Governance leitet. Er fordert einen Schnitt und sagt: „Bayer muss sich strategisch neu aufstellen. Auf der Hauptversammlung werde ich für einen Wechsel an der Vorstandsspitze plädieren.“
Fragen stellen, diskutieren, dem Management auf den Zahn fühlen: Bis 2019 hatte der Deka-Experte immer Gelegenheit, das von Angesicht zu Angesicht zu tun. Dann kam die Pandemie, und die jährlichen Aktionärstreffen fanden seitdem rein digital statt. Die Bundesregierung ermöglichte dies den Aktiengesellschaften in aller Eile befristet, denn nur so konnten sie ihre Jahrestreffen trotz Kontaktbeschränkungen rechtssicher durchführen.
Auf den Stichtag achten
Die Teilnahme an der jährlichen HV gehört zu den Grundrechten der Aktionäre. Auf der Veranstaltung entscheiden sie über die Verwendung des Jahresgewinns und andere wichtige Themen. Die Einladung dafür mit der Tagesordnung verschicken die Unternehmen über die Banken oder senden sie direkt an ihre Anteilseigner.
Um teilnehmen und mitstimmen zu dürfen, müssen die Aktien zu einem bestimmten Stichtag – meist zwei bis drei Wochen vor dem HV-Termin – im Depot liegen. Danach dürfen sie aber verkauft werden. Nur wer in den Genuss der Dividende kommen will, die meistens am nächsten Werktag nach der HV ausgeschüttet wird, muss die Papiere tatsächlich auch an einem bestimmten Stichtag vor dieser Veranstaltung besitzen.
Auch wenn viele Konzerne die Möglichkeit bieten, vorab per Brief oder online abzustimmen, empfiehlt Speich: „Jede Aktionärin und jeder Aktionär sollte einmal die Gelegenheit nutzen und an der Hauptversammlung seines Unternehmens teilnehmen.“ Er ergänzt: „Das ist die einzige Gelegenheit, um das Management und den Aufsichtsrat persönlich und vollständig zu erleben und die Stimmung im Saal mit der Reaktion auf Redebeiträge live mitzubekommen. Das ist häufig sehr aufschlussreich.“
Eine Aktie genügt schon
Jeder Teilnehmer kann vom Management Auskunft zur Geschäftspolitik und anderen Themen verlangen. Dafür reicht bereits eine Aktie. Der Vorstand muss grundsätzlich zu jeder Frage Stellung nehmen. Allerdings kann er die Auskunft bei vertraulichen Inhalten verweigern. So wird unter anderem verhindert, dass Betriebsgeheimnisse einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Doch die Latte dafür, was Vorstand und Aufsichtsrat verschweigen dürfen, ist hoch. Zum Beispiel müssen sie auf Nachfrage auch zur Bezahlung Auskunft geben.
Im vergangenen Jahr gab es erstmals wieder Hauptversammlungen in Präsenz, allerdings nur wenige. Als erster DAX-Konzern kehrte die Deutsche Telekom im April 2022 zum Aktionärstreffen in Präsenz zurück. Das brachte ihr viel Lob ein. In diesem Jahr will trotz Abflauen der Pandemie allerdings nur ein Bruchteil der Aktiengesellschaften davon Gebrauch machen – im Fall der DAX-Konzerne ist es etwa ein Viertel.
Als Gründe führen die Unternehmen geringere Kosten und bessere Organisationsmöglichkeiten an. Kritiker bemängeln dies. Vorher eingereichte Fragen können zudem am Plenum vorbei und damit quasi unter vorübergehendem Ausschluss der Aktionärsöffentlichkeit beantwortet werden.
Doch der Gesetzgeber hat eine Hürde eingebaut. Zulässig ist ein dauerhaftes Online-Format bei der HV nur dann, wenn es in der Satzung verankert wird. Diesem Beschluss müssen drei Viertel der Aktionäre auf der Hauptversammlung zustimmen. Experte Speich sieht das Vorhaben kritisch. „Wir werden maximal nur einer Befristung auf ein Jahr zustimmen und wollen dann ein Zwischenfazit ziehen“, kündigt er an. „Wegen des Informationsverlusts droht auf Dauer eine Entwertung der Hauptversammlung. Besser wäre es, wenn die Unternehmen stattdessen hybride Formate vorantreiben würden.“
Umfassende Agenda
Worüber unter anderem auf einer Hauptversammlung abgestimmt wird.
- Verwendung des Jahresgewinns
- Entlastung von Aufsichtsrat und Vorstand
- Besetzung des Aufsichtsrats
- Kapitalmaßnahmen
- Aktienrückkäufe
- Wahl des Wirtschaftsprüfers
- Vergütung des Managements
Titelfoto: Deutsche Telekom